Das wahre Problem von Anschlägen
Im vergangenen Monat sind in Deutschland drei unschöne Dinge geschehen. Dinge, bei denen Menschen ums Leben kamen. Dinge, über die groß berichtet wurde. Dinge, die in manchen Köpfen bestimmt noch lange verharren. Du erinnerst dich trotzdem nicht mehr, nein? Vielleicht liest du diesen Artikel einige Wochen, Monate oder gar Jahre nachdem er erschienen ist. Vielleicht just an dem Tag, an dem er erschien. Unabhängig davon wann du ihn liest, kann es durchaus sein, dass du es wieder vergessen hast, denn die drei Ereignisse sind mindestens schon vor 10, 12 und 16 Tage geschehen. Ich meinte den Angriff in einer Regionalbahn bei Würzburg am 18. Juli 2016 mit einer Axt und einem Messer, den Amoklauf in München am 22. Juli 2016 mit einer Glock 17 Handfeuerwaffe, wie auch den Sprengstoffanschlag in Ansbach am 24. Juli 2016, bei dem der Täter eine Rucksackbombe mit Metallsplittern bei sich trug.
Zu der Zeit des Amoklaufs in München war ich selbst in der Stadt unterwegs. Am anderen Ende der Stadt, auf einer Veranstaltung mit vielen Social Media affinen Menschen. Zumindest was die Bedienung dieser Medien anbelangt. Keine viertel Stunde nachdem die ersten Schüsse gefallen sein müssen kamen im Minutentakt neue Meldungen direkt über Twitter in die Runde bei uns. Schnell ergab sich das Bild, als sei nicht nur an einem Ort in München etwas passiert, sondern mindestens an drei Orten. An einem weiteren Ort ist letztlich tatsächlich etwas passiert – eine Massenpanik, dadurch, dass wohl viele Menschen über die wahren Geschehnisse gelesen haben und daraufhin Dinge sahen, die nicht der Realität entsprachen.
Harte Fakten
Anschläge, Amokläufe und ähnliche Ereignisse sind für den Einzelnen direkt oder indirekt Betroffenen ein grauenvolles Erlebnis. Ein Erlebnis, das ohne Frage in den Köpfen bleibt und ein großes Leid im Physischen wie im Psychischen hervorrufen kann. Dies denke ich, steht außer Frage. Dennoch sollte man die Faktenlage und damit eine Sachebene der Ereignisse betrachten.
Bei den Angriffen in Würzburg, München und Ansbach sind in der Summe 11 Menschen einschließlich je der Täter ums Leben gekommen, und weitere 51 Menschen verletzt worden. Um dies in ein Verhältnis zu setzen, sind in demselben Zeitraum in Afghanistan bei bestätigten Anschlägen mindestens 80 Menschen getötet worden und weitere mindestens 231 verletzt worden. Menschen die psychische Schäden aus den Ereignissen erlitten haben, sind auf Grund der schweren Messbarkeit nicht beachtet.
Man mag mit Recht behaupten, dass wir in Deutschland eine deutlich andere politische und völkerrechtliche Lage als in Afghanistan haben. Daher sollte man zum Vergleich andere Zahlen, die sich auf Deutschland beziehen, heranziehen. Dies ist insofern relevant, als man die Anzahl der gestorbenen und verletzten Menschen in ein Verhältnis setzen sollte um die Auswirkungen zu verstehen. In dem Zeitraum der drei Anschläge in Deutschland gab es statistisch rund 57 Verkehrstote (auf Basis der Verkehrstode in Deutschland aus 2015), rund 17 Drogentote (auf Basis der Drogentode in Deutschland aus 2014) und 3.793 Krebstote (auf Basis der Krebstode in Deutschland aus 2014). Insbesondere letzterer Zahl denke ich gilt es Beachtung zu schenken, da dies nicht nur punktuell wie bei Anschlägen stattfindet, sondern die Todesrate durch Krebs jeden einzelnen Tag im Jahr darstellt. 623 Krebstode in Deutschland – pro Tag.
Anhand dieser Zahlen, und diverser anderer, welche man an dieser Stelle anführen könnte, sollte klar werden, dass die Anzahl der betroffenen, selbst wenn man psychische Folgeschäden beachtet, durch die Angriffe in Deutschland nur sehr gering waren. Das was aus den Anschlägen gemacht wird, ist jedoch deutlich größer.
Die wahren Probleme der Anschläge
Ich wage zu behaupten, dass wir in ganz Mitteleuropa im Verhältnis zum weltweiten Durchschnitt ein sehr hohes Sicherheitsniveau haben. Außerdem haben wir in der Bevölkerung, auch durch weit verbreitete Sozialsysteme ein Wohlstandsniveau, welches die Anzahl solcher Tatversuche aus der lokalen Bevölkerung sehr gering hält. Deutschland ist politisch weltweit in Konflikte verwickelt, jedoch häufig in einer passiveren Rolle als viele andere Teilnehmer. Zugleich führt der große Wohlstand in Deutschland, welcher teils auf wirtschaftspolitischen Handlungsweisen basieren sollte, die andere Volkswirtschaften schlechter stellt, zu dem Wunsch Vieler sich in Deutschland niederzulassen, um dort ein vermeintlich besseres Leben zu haben. Dabei können jedoch natürlich auch Menschen mit radikalen Gedankengängen nach Deutschland gelangen – genauso wie Menschen mit radikalen Gedankengängen in Deutschland bereits leben.
In meinen Augen sind heutzutage in Deutschland nicht die direkten Schäden von Anschlägen oder anderen Angriffen selbst das Problem, da diese vereinzelt und in einem verhältnismäßig geringen ausmaß geschehen, sondern wir haben bei Anschläge drei viel ernsthaftere Probleme:
Medienberichterstattung: Unsere Medien berichten täglich über Anschläge von gestern. In Afghanistan, Syrien, Jordanien und vielen anderen Ländern. Sie berichten über gestern, zeigen schreckliche Bilder und hohe Zahlen an Todesopfern, die der durchschnittliche Konsument mittlerweile kaum mehr bewusst wahrnimmt, da diese Berichte längst Alltag wurden. Passiert jedoch in Deutschland, Frankreich, den USA oder anderen politisch nahestehenden Ländern ein Anschlag – mit meist deutlich geringeren Auswirkungen – so gibt es sofort Sondersendungen in denen wüste Spekulationen aufgestellt werden. Der religiöse Hintergrund des Täters und dessen Nationalität wird in den Vordergrund gestellt, obwohl darüber wenige Stunden oder gar Minuten nach der Tat keinerlei gesicherte Informationen vorliegen können. Keine 48-Stunden später findet man auf Spiegel Online und anderen Online-Magazinen je meist gefühlte 24 Artikel in denen das Thema mit vielen standardisierten Vermutungen hoch und runter geschrieben wurde. Man behandelt Anschläge in solchen Ländern signifikanter anders als solche, die einige hundert Kilometer weiter geschehen und bringt dabei Themen auf, welche teils vor populistischen Forderungen nur sprühen, die man ansonsten kaum auspacken kann. Natürlich sollte Beachtung finden, dass sich der Wert einer Nachricht für das einzelne Individuum unter anderem durch dessen Nähe bestimmt, wie die Nachrichtenwert-Theorie beschreibt, doch bleibt die Frage ob diese emotional geprägte Verhaltensweise den Zielen der Täter nicht in die Hände spielt. Es ist bestimmt eine Utopie eine Meldung aus dem Land in dem man lebt wie die eines weit entfernten Landes zu behandeln, doch ist es eine Utopie, die zuträglich dazu wäre das Ausmaß der Taten im Verhältnis zu anderen Taten im Blick zu halten.
Politik: Der Medienrummel, welcher aus der örtlichen Nähe der Anschläge resultiert, ist für die Politik ein fast schon willkommenes Ereignis. Durch Angriffe lassen sich Forderungen nach mehr Sicherheit unter Beschränkung der Freiheit äußern und totgesagte Debatten wie die Killerspiel-Debatte, welche häufig auf der emotionalen Ebene, nämlich den Ängsten von Menschen, geführt wird, wieder auffrischen. Politische Entscheidungen werden Ad-hoc getroffen, um eine Vielzahl von Menschen zu beruhigen und vielleicht auch einige Wählerstimmen einzusammeln.
Social Media: Eine Erfindung, die unsere Welt verändert hat. Social Media und Smartphones, zeigen bei solchen Ereignissen ganz klar zwei Seiten ihrer Medaille. So gibt z.B. durch Facebook Push-Benachrichtigungen, die einen auffordern zu markieren ob man in Sicherheit sei, was das Beruhigen vieler Bekannter maßgeblich vereinfacht. Dem gegenüber steht jedoch, wie ich eingangs erzählt habe, dass Spekulationen in einer Geschwindigkeit die Runde machen, wie es vor zehn Jahren nicht mal denkbar gewesen wäre. Dies führt im schlimmsten Fall zu grundlosen Massenpaniken wie in München, bei denen weitere Schäden entstehen. Als noch schlimmer empfinde ich jedoch die Reaktion nach den Anschlägen. Massen an Posts oder Funktionen wie sein Profilbild in Nationalfarben des betroffenen Landes zu tauchen – um Anteilnahme auszudrücken. Das hat nicht mit wahrer Anteilnahme zu tun. Ein Klick zu machen, und diesen letztlich nur zu tätigen, um allen in seinem persönlichen Umfeld zu zeigen, dass man trauere, hat rein gar nichts mit wahrer Anteilnahme zu tun, sondern ist teils ein Gruppenzwang und in aller Regel eine Selbstdarstellung. Eine Selbstdarstellung auf den Schultern von Toten. Das ist fast schon ein wirkliches gesellschaftliches Problem, denn wenn eine Vielzahl von Menschen etwas hinterherrennt – selbst wenn sie sich mit der Sachlage vielleicht nicht einmal ernsthaft beschäftigt haben – ist es ein nicht mehr all zu großer Schritt diese Anteilnahme per Klick auch ganz anders zu verwenden.
Was am Ende bleibt
Spekulationen innerhalb weniger Minuten in Social Media, ein riesiges Medienevent in denen Gedanken über z.B. Nationalität oder Religion zunächst ohne Fakten manifestiert werden, die Forderung nach noch mehr Sicherheit statt Freiheit auf den Schultern ein paar Opfer und gespielte Anteilnahme wobei ein sukzessiv wachsender gesellschaftlicher Gruppenzwang einstudiert wird. Und letztlich, das Schlimmste: Angst. Das größte Ziel solcher Anschläge, Angst zu verbreiten, wird meinem subjektiven Empfinden nach immer mehr erreicht. Schaut in euer persönliches Umfeld und redet über die Geschehnisse, und ihr werdet merken, dass immer mehr Menschen sich ernsthafte Gedanken darüber machen ob sie Großveranstaltungen nicht meiden sollten. Die Faktenlage, dass sie auf dem Weg zur Arbeit viel eher sterben könnten als durch einen Anschlag, wird von der emotionalen Botschaft vielfach überdeckt. Das ist was Anschläge erreichen sollen. Angst verbreiten, Verhaltensweisen manipulieren und Menschen lenken.
Ich persönlich bin kein Fan des Oktoberfestes in München. Viel Trubel, Bier samt Bierleichen, und überteuerte Preise. Es wäre jedoch ein perfektes Anschlagsziel. Viele Menschen auf einen Haufen, eine heitere Stimmung, die optimal erschüttert werden könnte, und Kontrollen sind nahezu unmöglich. Wisst ihr was? Ich werde dieses Jahr zum Oktoberfest gehen. Und hauptsächlich aus dem Grund, dass ich mich durch ein paar Anschläge nicht einschränken lasse. Und falls doch das höchst unwahrscheinliche Ereignis eintreten sollte, dass ich bei dieser Veranstaltung oder auf anderem Wege durch einen Anschlag ums Leben komme, dann bin ich stolz auf diesem Wege gestorben zu sein, denn ich weiß wenigstens, dass mich die Angst nicht ergriffen hat und ich damit den einzelnen Tätern keine Chance gegeben habe mein Leben durch ihre grauenvollen Handlungen zu lenken.